Im Olymp der Ökonomen

Zur öffentlichen Resonanz wirtschaftspolitischer Experten von 1965 bis 2015

Mohr Siebeck, Reihe “Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert” (7).

Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Laudatio).

“In einer äußerst klugen, als bahnbrechend zu bezeichnenden digitalhistorischen Untersuchung weist Wehrheim auf Basis von Methoden des Text Mining nach, wie sich die Resonanz der Wirtschaftsweisen entwickelt hat.”
Jochen Zenthöfer, Frankfurt Allgemeine Zeitung 01.11.2021

“Zu den Vorzügen von ‘Der Olymp der Ökonomen’ gehört die methodologische Selbstreflexion […] So gelingt es [Wehrheim], die Resonanz der ökonomischen Expertise präzise zu vermessen, deren Veränderungen zu rekonstruieren und diese überzeugend zu plausibilisieren – ohne dabei Resonanz mit Wirkung zu verwechseln.”
Tim Schanetzky, H-Soz-Kult 05.05.2022

Weitere Rezensionen:
Ullrich Heilemann in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
Anselm Küsters in Oeconomia
Alexander Leipold in Neue Politische Literatur


Zusammenfassung

(for an English abstract, see below)

Zu Beginn der 2020er Jahre gestaltet sich das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und wissenschaftlichem Expertentum ambivalent. Einerseits sucht die Öffentlichkeit stärker denn je den Rat von Experten, andererseits gelingt es diesen in Zeiten von Fake-News, alternativen Fakten und Meinungsblasen scheinbar immer weniger, mit ihrem Fachwissen durchzudringen. Die Corona-Pandemie belegt diesen Befund sehr anschaulich, wobei die Krise der Experten im postfaktische Zeitalter bereits seit Längerem anhält, der Brexit und die Politik Donald Trumps stehen hierfür exemplarisch. Diese Krise betrifft auch das wirtschaftspolitische Expertentum, das in Deutschland am prominentesten noch immer durch den 1963 gegründeten Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) verkörpert wird. Allerdings hat der „Olymp der Ökonomen“, folgt man dem gemeinhin geäußerten Narrativ, gegenüber den „glorreichen Jahren“ der 1960er und 70er Jahre an Strahlkraft verloren.
Doch entspricht diese Niedergangs-Erzählung in ihrer Linearität tatsächlich auch der Realität? Und falls ja, wie lässt sich dieser Prozess erklären? In meiner Arbeit widme ich mich diesen Fragen, indem ich die öffentliche Resonanz des SVR seit seiner Gründung nachzeichne, womit meine Arbeit die bestehende Literatur insbesondere durch die Betrachtung der zeithistorisch erst allmählich in den Blick kommenden 1980er bis 2000er Jahre ergänzt. Der Aspekt der Öffentlichkeit steht hierbei im Mittelpunkt, da der SVR seinen Einfluss weniger über konkrete wirtschaftspolitische Empfehlungen, sondern, mit Robert Shiller gesprochen, vor allem über das Prägen von ökonomischen Narrativen ausübt. Entsprechend konzentriert sich die Arbeit auf zwei Resonanzräume: die Medien, abgebildet durch die Presse, und die Politik, abgebildet durch den Deutschen Bundestag. Konkret geht es um drei Aspekte: Wie sichtbar war der SVR in der öffentlichen Debatte? In welchen konkreten Diskursen trat der SVR in Erscheinung? Und wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung des SVR als Institution verändert?
Methodisch beschreitet die Arbeit neue Wege, in dem sie einen dezidiert digital-historischen Ansatz verfolgt. Mit Hilfe verschiedener Methoden des Text Mining, insbesondere durch sogenanntes Topic Modelling, werden sowohl die beiden Resonanzräume als auch die Publikationen des SVR einer empirisch-quantitativen Auswertung unterzogen, die mit einem historisch-hermeneutischen Zugang kombiniert wird. Dieser Ansatz des Blended Reading bzw. der digitalen Hermeneutik ermöglicht es, die öffentliche Resonanz und die Publikationen des SVR – ein Textkorpus von zusammen mehr als neun Millionen Wörtern – in Gänze zu betrachten und in einer diachronen Perspektive zu untersuchen. Auf diese Weise kann unter anderem gezeigt werden, dass das Niedergangs-Narrativ eine zu starke Verkürzung darstellt. Es lassen sich vielmehr verschiedene Konjunkturen wirtschaftspolitischer Expertise ausmachen, wie etwa der Boom der Sachverständigenkultur zu Beginn der 2000er Jahre, von dem auch der SVR profitieren konnte. Es zeigt sich zudem, dass für die Entwicklung dieser Konjunkturen ein Zusammenspiel aus SVR-spezifischen Faktoren wie etwa dessen personelle Zusammensetzung und übergeordneten Aspekten wie das generelle öffentliche Vertrauen in wirtschaftspolitische Experten verantwortlich ist.

At the beginning of the 2020s, the relationship between the public and scientific expertise is ambivalent. On the one hand, the public is seeking advice from experts more than ever before, while on the other hand, in times of fake news, alternative facts, and opinion bubbles, experts seem to be less and less able to penetrate with their expertise. The Corona Pandemic is a very vivid illustration of this finding, although the crisis of experts has been going on for some time, the Brexit and the politics of Donald Trump are examples of this. This crisis also affects economic policy expertise, which in Germany is still most prominently embodied by the Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), founded in 1963. However, if one follows the commonly expressed narrative, the “Olympus of economists” has lost most of its appeal compared to the “glorious years” of the 1960s and 1970s. For example, in a recent article, Jan Willmroth from the Süddeutsche Zeitung stated that the Council’s annual reports would receive only short-term and rather superficial public attention after publication in November.
But does this narrative of decline really correspond to reality? And if so, how can this process be explained? The present study addresses these questions by tracing the public response to the SVR since its foundation, expanding the existing literature, particularly by looking at the 1980s to 2000s. The aspect of publicity is central here, since the SVR exerts its influence less through concrete economic policy recommendations, but, in Robert Shiller’s words, primarily through the shaping of economic narratives. Accordingly, the work focuses on two resonance spaces: the media, represented by the press, and politics, represented by the German Bundestag. The study is directed at three aspects: How visible was the SVR in the public debate? In which specific discourses did the SVR appear? And how has the public perception of the SVR as an institution changed?
Methodologically, the work breaks new ground by pursuing a digital-historical approach. With the help of various text mining methods, in particular topic modelling, both the two resonance spaces and the SVR’s own publications are studied empirically, which is combined with a historical-hermeneutic approach. This approach of blended reading or digital hermeneutics makes it possible to study the SVR’s public resonance and the publications – a text corpus of more than nine million words – in their entirety and to examine them diachronically. In this way, I can show, among other things, that the decline narrative is indeed quite imprecise. Rather, it is possible to identify various “business cycles” of economic policy expertise, such as the boom in expert culture in the early 2000s, from which the SVR also profited. It is also apparent that a combination of factors specific to the SVR, such as the composition of its staff, and overarching aspects, such as general public confidence in economic policy experts, is responsible for the development of these economic cycles.

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